Wie geht Führung mit Neuer Autorität?

Wie geht Führung mit neuer Autorität

Rezension Wilhelm Geisbauer: Führen mit Neuer Autorität. Stärke entwicklen für sich und das Team. Heidelberg 2018. 166 Seiten.

Die Führungskraft als Fels in der Brandung einer beschleunigten Welt scheint noch immer ein attraktives Leitmotiv der Führungsdiskussion zu sein. Wer so führt oder führen möchte, bekommt mit W. Geisbauers Buch ein Lern- und Reflexionswerkzeug an die Hand.

Die 166 Buchseiten umfassen die Entfaltung des Konzeptes (9–111), eine Anleitung zur Selbstreflexion (112–133) und den Anhang (134–159) sowie ein Literaturverzeichnis.

Was ist neu an der Neuen Autorität?
Unter dem Titel Neue Autorität hat der israelische Psychologe Haim Omer die Begriffspole ‘Stärke statt Macht, Präsenz statt Distanz, wachsame Sorge statt Hierarchie’ in die pädagogische Diskussion eingebracht. Die Krise alter Autoritäten hat nach den Familien und Schulen auch die Führungsstrukturen in den Unternehmen erreicht. Gelingt der Transfer eines Konzepts aus der Pädagogik in den Alltag von Führungskräften?

Wilhelm Geisbauer zielt auf den Kern gegenwärtiger Herausforderungen: Den souveränen Umgang mit den “weichen Faktoren” (22), wie Vertrauen, Intuition, Resonanz, Teamgeist und die Lern- und Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden. Neue Autorität ist Basis und Rahmen jeder positiven Entwicklung in der Zusammenarbeit. Sie ist darum vor allem Beziehungsarbeit, die aus einer gewachsenen und reflektierten inneren Haltung kommt.

Das sind die sieben Elemente der Neuen Autorität in Führung(26–34):

  • Eine Führungskraft, die Neue Autorität lebt, geht in Beziehung, sucht Nähe, zeigt Interesse und Fürsorge. (Präsenz versus Distanz)
  • Das Informationsmanagement der Führungskraft kennt keine Tabuzonen, keine selektive Vier-Augen-Kommunikation sondern sichert durch synchrone Informationsstände die Handlungsfähigkeit des Teams. (Transparenz versus Abschottung)
  • Die Führungskraft der Neuen Autorität verkörpert Zeitsouveränität, begegnet Turbulenzen und Zeitdruck mit Beharrlichkeit und Geduld. (Beharrlichkeit versus Dringlichkeit)
  • Die Präsenz der Führungskraft lebt auch im Konfliktfall aus der Position von ‘Stärke statt Macht’. Wo sie Grenz- und Regelverletzungen anspricht, wahrt sie die Würde des Gegenübers und das konstruktive Miteinander. (Entschiedenheit versus Dominanz)
  • Da Führungskräfte vor allem sich selbst führen müssen (31), pflegen sie die persönliche Reflexion und suchen sich dafür professionelle Kommunikationspartner. (Selbstführung versus Kontrolle)
  • Neue Autoritäten nutzen ihre Schlüsselposition zur Deeskalation in Konflikten. Sie kennen die Dynamik von Wiedergutmachung und Verzeihen zur Wiederherstellung der Integrität des Teams. (Deeskalation versus Eskalation)
  • Obwohl “es ohne ein Minimum an Hierarchie in einer Organisation nicht geht” (33), hat mit der Neuen Autorität die einsame Führungskraft ausgedient. Sie vernetzt sich zu gegenseitiger Unterstützung mit Gleichrangigen. (Vernetzung versus Hierarchie)

Geisbauer verankert die Neue Autorität vor allem in den Modellen der Lösungsorientierten und Gewaltfreien Kommunikation sowie des Personal Re-Teaming. Die grundlegende Haltung und das praktische Vorgehen der Führungskraft (“den Aufmerksamkeitsfokus der Beteiligten radikal auf die Zukunft lenken” S. 43) sind transferfreundlich dargestellt. Wo Teams auf Problemanalysen und die Schuldfrage verzichten, werden sie die erwünschte Zukunft kooperativ gestalten. Die Fähigkeit in Konflikten souverän zu agieren wird hier vorbereitet. Darüber hinaus werden mit dem vorgestellten Systemdenken die menschliche Autonomie und die Beziehungsdynamiken von Teams verstehbar.

Führung ist Lernen und Reflexion — lebenslang
Die Stärke von “Führen mit Neuer Autorität” liegt in der breiten Anlage des Konzepts, das der Komplexität gegenwärtiger Führungsarbeit entspricht. Neben den o.g. Modellen bietet Geisbauer eine Fülle bemerkenswerter Ansätze wie z.B. Vergebung, Resonanz, Salutogenese, Open Dialogue, der Zukunftsentwurf nach K. I. Berg und andere. Er zielt auf einen kontinuierlichen, lebenslangen Prozess des Lernens, Handelns und der Reflexion. Ein ‘Leitfaden zur Neuen Autorität’ (112 ff) mit Anleitung und Materialien zur Selbstreflexion schließt sich stimmig an.

Die angebotene Themenvielfalt schafft Raum für individuelle Vertiefung und Ausgestaltung. Will das Konzept der Neuen Autorität sich von der Fülle der Managementmoden, -theorien und -tools abgrenzen, braucht es eine schlüssige Fokussierung auf das Wesentliche. Dies ist m.E. in Geisbauers Arbeitsbuch (noch) nicht zu erkennen.

Der Autor greift in Kapitel 6 “Neue Autorität und Gesundheit” eine verbreitete Forderung auf: Führungskräfte müssen sich ihrer Wirkung auf die Gesundheit der Mitarbeitenden bewußt sein. Dafür braucht es Wissen und die Reflexion über ihre “Grundhaltung bezüglich Fürsorge und Verantwortung”(86). Aus dem Meta-Konzept der Salutogenese — Entstehungsbedingungen für Gesundheit in Systemen- und der Burnout-Forschung von Ch. Maslach formuliert der Verfasser die notwendige Fürsorge-Haltung der Führungskraft. Er überwindet die Individualisierung der Burnout-Diskussion, indem er den Blick auf das System, in dem Burnout entsteht, fordert. Unternehmerische Interventionen zielen auf gegenseitigen Respekt, die Identifikation mit der Arbeit und “die Qualität des Arbeitslebens einer Belegschaft”(92). Die Führungskraft soll in moderierten Gesprächen mit Mitarbeitern über “Gesundheit im Betrieb” kommunizieren. Geisbauer gibt dafür das “Maslach-Burnout-Inventory” als standardisierten Gesprächsleitfaden an die Hand. Er folgert:“ Ausgeprägte Fürsorge führt nicht nur zu einem gesunden Rahmen der Organisation, sondern auch zu einem deutlichen Zugewinn an Neuer Autorität.”(S.93)In einem kurzen Absatz zu Mobbing konstatiert der Autor: “Wenn Führungskräfte ihre Neue Autorität wirklich leben, sollte Mobbing kaum noch ein Thema sein”(93).

Die Stärke der Führungskraft und ihr blinder Fleck
In den Ausführungen zur Gesundheit als Führungsaufgabe in Neuer Autorität sind auch die Schattenseiten des Konzepts im Ganzen direkt zu greifen. Die vielfältigen Wechselwirkungen im System Arbeitswelt und im einzelnen Menschen geraten in den Hintergrund. Mit Neuer Autorität ausgestattet ist das Handeln der Führungskraft gefordert und in ihren Händen liegt die Burnout-Prophylaxe. So wenig die auf das Individuum bezogene Ursachenzuschreibung allein genügt, so wenig hilft die Verlagerung der Verantwortung auf eine einzige Handlungsgröße. Im Gegenteil: Wo eine Führungskraft ihre fachlichen und menschlichen Grenzen nicht kennt und, etwa unter dem Anspruch der Fürsorge, sich auch z.B. in arbeitsmedizinischen Fragen zuständig fühlt, verfehlt die gute Absicht ihre Wirkung. Die Burnout-Gefährdung von Menschen mit Führungsaufgaben und die Notwendigkeit von Selbstfürsorge-Strategien der Neuen Autoritäten sind darüber hinaus überhaupt nicht im Blick. Zwar wirbt der Abschnitt 5.5 bei Führungskräften vorsichtig um Selbstempathie, denn “dadurch erlangen sie Stärke und Sicherheit als wichtigstes Fundament für die Neue Autorität.”(81) Der Fokus liegt jedoch ganz auf der Außenwirkung von Empathie und Achtsamkeit. “Fühlen sich Menschen von ihren Vorgesetzten verstanden, (…)entfalten sie ihr volles Potential (…) und können scheinbar Unbewältigbares bewältigen”.(81)

Mein Fazit
Führungskräfte, die im Zwischenmenschlichen sich unsicher oder nicht zuständig fühlten, öffnet das Konzept der Neuen Autorität einen wirkungsorientierten Zugang. Selbst in anspruchsvollen Kontexten wie Gesundheitsgefährdung, Konflikten oder Problemfülle bietet es Handlungssicherheit an. Wer Führungsstärke vor allem als Handlungs-kompetenz sieht, findet hier viele Anregungen. Ich bin gespannt, wie die Diskussion um neue Führung in Zeiten von digital leadership und höherer Selbstorganisation in Unternehmen weitergeht. Taugt das Bild vom Fels in der Brandung noch? Wir werden sehen, ob und wie ‘Neue Autorität’ einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten kann.

Dieser Beitrag wurde am 20.03.2018 auf medium.com veröffentlicht.